Was passiert, wenn der Kompositionsprozess von Interpret:innen und Komponist:innen gemeinsam gestaltet wird? In ihrem künstlerischen Forschungsprojekt sucht die schwedische Geigerin Karin Hellqvist zusammen mit einer Gruppe von Komponist:innen-Künstler:innen nach neuen Wegen, Musik zu schaffen. So vielfältig wie die Praktiken der Teilnehmenden sind auch die Werke, die im Rahmen des Projekts entstehen, und sie verwenden eine breite Palette von Materialien und Methoden. Im Mittelpunkt stehen jedoch die besonderen performativen Qualitäten, die Hellqvist in sich trägt, und ihr Potenzial, den kompositorischen Prozess zu beeinflussen.
In Liza Lims One and the Other (Speculative Polskas for Karin) (2022) rückt das verkörperte Erbe der schwedischen Volksmusik in Hellqvists Spiel in den Vordergrund – in Form eines pulsierenden Polska-Tanzes. „Wenn ich Polskas aus meiner Heimat spiele, kann ich spüren, wie sich die Musik in meinem Körper bewegt. Der erste Takt verbindet mich mit dem Boden, indem meine Füße in der linken Körperhälfte leicht den Rhythmus klopfen. Der zweite Schlag wirbelt auf, als würde er von einem plötzlichen Wind erfasst. Ich atme ein. Dann landet die Musik wieder in meinen Füßen, auf der rechten Seite. Und der Zyklus wiederholt sich.“
In Gradients (2023), das der schwedische Komponist Henrik Strindberg und Karin Hellqvist gemeinsam komponiert haben, geht es um die Übergänge zwischen Klangfarben oder Spieltechniken, die unsere Wahrnehmung zwischen den verschiedenen Nuancen der Geigenpalette verschieben. Der Schwerpunkt liegt hierbei auf bestimmten Techniken auf der Violine, wie dem kreisförmigen Bogenstrich. Vier Jahre lang erarbeiteten sich die beiden Komponist:innen in einem zyklischen Arbeitsmodus das gemeinsame Wissen für die Entwicklung des Werks.
Der 2005 vom australischen Nachhaltigkeitsforscher Glenn Albrecht geprägte Begriff „Solastalgie“ bezieht sich auf das Gefühl von Verlust und emotionaler Not, das wir empfinden, wenn sich Umweltveränderungen, die wir als negativ empfinden, vor unseren Augen entfalten. Solastalgia von Carola Bauckholt und Karin Hellqvist, mit einem Video von Eric Lanz, ist ein Klagelied für das arktische Eis, das die Sorge der Künstlerin um die Umweltveränderungen zum Ausdruck bringt. Die Violine leiht dem Eis im Tonbandteil ihre Stimme, komponiert mit reinen Geigenklängen, die Hellqvist während der Isolation in der Pandemie aufnahm.
Avian Chatters von Kristine Tjøgersen, mit der Karin Hellqvist im norwegischen Ensemble neoN eng zusammenarbeitet, wurde für den Geiger Marco Fusi komponiert und erforscht die bemerkenswerte Fähigkeit des australischen Leierschwanzes, fremde Klänge zu imitieren. Ihr Gezwitscher ist häufig eine Mischung aus Gesängen anderer Vögel, den Geräuschen von Koalas und Dingos, ebenso wie Kettensägen- oder Autogeräuschen bis hin zum Babygeschrei. So wie der Leierschwanz verschiedene Geräuschimitationen zu einem Gesang komponiert, überträgt auch Karin Hellqvist die Geräusche auf die Geige, begleitet von Aufnahmen des echten Leierschwanzes.